Rainer Metzger, 2016
„Einfachheit der Form ist nicht unbedingt das gleiche wie Einfachheit der Erfahrung./
Simplicity of form does not necessarily equate with simplicity of experience.“
Robert Morris, Anmerkungen über Skulptur/Notes On Sculpture, 1966
Moderne
Einfachheit der Form. Der Satz, der diesen Ausführungen zu Oscar Bronners jüngsten, nunmehr plastisch gewordenen Arbeiten als Motto dient, stammt von Robert Morris, dem Veteranen der Minimal Art und Vordenker einer neuen, man könnte sagen, nach-modernen Kunst. Er steht am Ende des ersten von drei Teilen seiner in „Artforum“ erschienenen, sehr prinzipiellen Anmerkungen zur Skulptur. Skulptur ist nach klassischer Definition das Behauene, während Plastik dadurch entsteht, dass man etwas hinzufügt. Skulptur ist aus Holz oder Stein, Plastik aus Ton, Gips oder Bronze. Nicht zuletzt mit Morris' magistralen Bemerkungen ist diese Unterscheidung heute weggefallen. Was als „Sculpture in the expanded field“ oder als „SkulpturenProjekte Münster“ firmiert, besteht wie auch immer aus Dreidimensionalität.
Einfachheit der Form. Im Abschnitt davor hatte Morris über „Gestalt“ gesprochen, und letztlichkeine Unterscheidung getroffen. Form und Gestalt sind Synonyme bei ihm. Aus dieser Nonchalance spricht der Minimalist, der mit Kuben arbeitet, mit Boxes, mit „Polyedern“, wie er selbst es nennt, die in purer Geometrie daherkommen. Daraus spricht der Nach-Moderne. Oscar Bronner steht demgegenüber in der Tradition der Moderne..
Gestalt resultiert aus jener Vervollständigung, die man mit sich und bei sich herstellt, wenn man einer Form gewahr wird. Sieht man von einem Würfel vielleicht nur zwei oder drei Seiten, ist einem dennoch gleichsam intuitiv gegenwärtig, um welches Objekt es sind handelt. Einfachheit der Form und Einfachheit der Gestalt gehen ineinander über. Bei Bronners Objekten ergibt sich eine charakteristische Differenz. Die Form ist einfach, die Gestalt dagegen ist kompliziert. Jedenfalls folgt sie keinem Automatismus. Wer sich vergewissern will, wie sie aussehen, muss sich die Mühe machen, sie als klassische Skulpturen zu nehmen. Man muss sie befragen, ob sie eine Hauptansicht besitzen oder von allen Seiten wahrgenommen werden wollen; man muss ihre Silhouetten in Augenschein nehmen; man muss untersuchen, wie die Gewichte austariert sind; man muss das Verhältnis der Objekte zum Raum taxieren; man muss zur Kenntnis nehmen, wie sie eine momentane Ansicht durchkreuzen durch Durchblicke.
Bronners Skulpturen wollen als Skulpturen verstanden werden. Sie sind nicht die „Specific Objects“ etwa von Minimal. Sie sind keine Hybride, die sich aus verschiedenen Nachbarkünsten Merkmale entlehnen, um ihre spezielle Theatralik zu entfalten. Sie sind Skulpturen im Sinn der Gattung Skulptur. Sie sind abstrakt. Sie arbeiten dabei auf der Basis eines bevorzugten Prinzips der Abstraktion: Sie sind Gitter, Grids, Raster, und darin wird ihre Gemachtheit offenbar.
Sie verdanken sich einem Drahtgeflecht. An diesem Geflecht, das textilhaft nachgiebig ist, wird sodann gebogen, gedreht, gefaltet, es weitet sich in den Raum und nimmt ein fixes Resultat an. Schlaufen, Spiralen, Möbiusbänder sind dabei entstanden, auch Leitern oder Spaliere. Anschließend werden sie mit Gipsbinden ummantelt. Dann wird über dieses Gebilde weiter entschieden: Es wird mit rötlicher Farbe bemalt, wenn es Gipsobjekt bleibt; oder es wird in Bronze bzw. Aluminium gegossen und bleibt dann auf seine Art materialsichtig. So oder so ergibt sich eine Oberfläche, teils schrundig und aufgeworfen, in Passagen auch glatt bis glänzend.
Das kann dann amorph erscheinen oder auch biomorph. Zunächst aber bleibt die jeweils individuelle Gestalt. Sie ist sie selbst. Es geht weder, bei Ausrichtung ins Kleine, um Modell noch, bei Tendenz zum Großen, um Monument. Konventionelle Strategien der Präsentation sind sekundär. Die Objekte haben keine Plinthen, also keine in ihre Gestalt eingebauten Basen. Sie verweigern sich auch dem Sockel, also den herkömmlichen Instanzen der Platzierung im Ambiente. Bronner experimentiert mit Möglichkeiten der Anbringung an der Wand, als käme ihnen das Relief zupass, oder an der Decke, alshätten sie etwas von Mobiles. Tatsächlich ist der Emanzipationsprozess, den die Skulptur der Moderne von Auguste Rodin zu Constantin Brancusi zu Alexander Calder durchmachte, in ihnen angelegt.
Modernismus
Diese Objekte sind sie selbst. Ihr Titel ist das Datum, an dem sie fertiggestellt worden sind. Ohne eine solche sprachliche Begleitung geht es generell nicht. Kunst ist in der Moderne auf diese Komplementarität verwiesen: Sie befindet sich in einem Zusammenhang mit Text. Und wenn ihr Titel „ohne Titel“ ist: Die Aufladung abstrakter, selbstbezüglicher, selbstevidenter künstlerischer Arbeiten mit Text ist unhintergehbar. Historisch geworden ist sie nach dem Ende der Avantgarden im Gefolge der großen Kriege. Die Moderne wurde kurzgeschlossen mit Modernismus.
Die vielleicht einschlägigste Verquickung von Piktoralität und Literalität vollzog sich in der Debatte über Jackson Pollock. Gegenüber standen sich zwei New Yorker Kunstschriftsteller, die dabei zu Großkritikern wurden, Clement Greenberg und Harold Rosenberg.
Greenbergs Theorie des „Modernismus“ erklärt den Künstler zum Medium der Geschichte: Jede künstlerische Gattung vollzieht sich, verfügte er, nach Maßgabe ihrer speziellen materiellen und technischen Möglichkeiten im Zuge einer Selbstkritik; sie bringt mehr und mehr zur Kenntlichkeit, was sie kennt und kann, sie durchmisst dabei einen Prozess der Verbesserung und ist also ein aufklärerisches Projekt; in der Malerei, Pollocks Metier, läuft dieser Prozess darauf hinaus, dass sie sich in ihrer Zweidimensionalität enhüllt; Flachheit, Flatness, ist ihre Domäne, und Pollock ist ihr Enthüllungs- und damit Erfüllungsgehilfe.
Von Rosenberg stammt die Theorie des „Action Painting“: Pollock ist die berserkerhafte, genialische Figur, die sich, die ihre Kraft und ihre Individualität ausagiert beim Agieren mit Farbe auf Fläche; der Künstler ist ganz Ego und seine Arbeit dokumentiert die Emphase, in die er sich dabei befördert.
Müßig anzumerken, dass sowohl Greenberg als auch Rosenberg Recht haben. Es gehört zur Selbstbezüglichkeit der Bilder in der Moderne, dass sie die Textein einem bestätigen wie ins Leere laufen lassen.
Seltsam unartikuliert blieb in diesem Kampf um die Deutungshoheit das Skulpturale. Dabei war der Schlüsseltext zu Greenbergs Modernismus, 1940 erschienen, ausgerechnet „Towards A Newer Laocoon“ betitelt. Mit Laokoon ist die antike Figurengruppe aus Marmor gemeint, die im 18. Jahrhundert eine Debatte entfesselt hatte, an der sich alle Ästhetiker, und die waren in erster Linie deutschsprachig, beteiligten. Speziell der Beitrag Gotthold Ephraim Lessings war folgenreich: Er brachte die Gattungen auf den Weg, die Einsicht, dass Malerei etwas prinzipiell anderes kann als etwa Literatur. Lessing nannte seine 1766 publizierte Schrift „Laokoon. Oder: Über die Grenzen der Malerei und Poesie“. Unzweifelhaft war die Laokoon-Gruppe eine Skulptur. Lessings Buch handelt aber schon im Titel von Malerei. Der blinde Fleck würde sich über die Jahrhunderte ziehen. Noch Greenberg findet sich in ihm exemplarisch verfangen.
Das nun sind Greenbergs lapidare Sätze über die Skulptur: „Wie in der Malerei die ursprüngliche Flächigkeit der aufgespannten Leinwand ständig bestrebt ist, alle anderen Elemente zu unterwerfen, so scheint in der Bildhauerei die Steinfigur stets kurz davor, in den ursprünglichen monolithischen Block zurückzufallen, und der Bronzeguß scheint dünner und glatter zu werden, zurückzukehren in den geschmolzenen Fluß, aus dem er ursprünglich gegossen war.“ Anders als bei der progressionsbewegten Malerei fallen Greenberg fürs Plastische nur Rückzugstendenzen ein, Bewegungen in eine Ursprünglichkeit, an deren Ende der Anfang steht, der Klumpen, der Block. Ein wenig erinnert Greenbergs schlichte Verfügung ans Bleigießen zu Silvester.
Wie könnten demgegenüber genuin modernistische Skulpturen aussehen? Vielleicht wie diejenigen Oscar Bronners. Nicht von ungefähr hat er sein künstlerisches Vorleben in New York bewerkstelligt. Und seine Malerei der letzten Jahre, aber das wäre ein anderes Thema, ließe sich mit Greenbergs auf diesem Gebiet weitaus avancierteren Thesen wunderbar in Parallele bringen. Bronners Objekte setzen jedenfalls auf den Prozess ihrer Gemachtheit. Sie verdanken sich dem Hantieren, doch ist diese Handgreiflichkeit, mittels der sie entstehen, von vornherein durchsetzt mit dem Eigensinn, der Eigenlogik, der Automatik des Materials. Diese Materialität bleibt sichtbar, sie bestimmt die Tatsache, dass diese Gebilde abstrakt sind. Abstraktion ist nicht Prämisse, sondern selbstverständliche Begleiterscheinung der Konzentration auf Material und Medium. Und diese Objekte durchlaufen eine Art phänomenaler Steigerung: Sie sind, am Anfang, einfach, und sie sind, am Ende, komplex. Auf ihre Art nehmen sie teil am Prozess der Zivilisation. Nichts anderes verkörpert der Modernismus.
Modernität
Bei der Einfachheit der Formen bleibt es nicht. Und von Einfachheit der Erfahrung ist ohnedies keine Rede. „Die Kunst“, schreibt Aleida Assmann in ihrer Enzyklopädie über die „Erinnerungsräume“, erschienen 1999, „unterstreicht insbesondere die Materialität, die Dinghaftigkeit, an die sich das Gedächtnis klammert im Zeichen einer ubiquitären Immaterialisierung aller Daten. In einer Kultur, die sich ihrer Vergangenheit nicht erinnert und auch ihre Erinnerungslosigkeit vergessen hat, nehmen sich die Künstler verstärkt des Gedächtnisses an, indem sie die verlorenen Funktionen durch ästhetische Simulationen sichtbar machen.“ In diesem Sinn geben auch Oscar Bronners Objekte ein Stück Erinnerungskunst ab. Sie tragen Gedächtnis, indem sie Spuren tragen.
Die Gemachtheit dieser Objekte erinnert an die Unverbrüchlichkeit, die sie mit den materiellen und medialen Bedingungen verbindet, aus denen sie bestehen. Und die Gemachtheit dieser Objekte erinnert an den Körper dessen, der mit ihnen ursprünglich, um sie zur Entstehung zu bringen, hantierte. Der Künstler, der Oscar Bronner heißt, der eine Biografie mitbringt und eine Konstitution, in der sich diese Biografie niedergeschlagen hat, der ein Programm ersinnt, in dem sich sein Leben widerspiegelt, und ein Konzept entwickelt, das auf all diese Spuren, Markierungen und Fährten baut: Er macht das Stück Skulptur zum Indizienbeweis, zum Index, zur physikalischen Umsetzung einer wie immer auch widersprüchlichen oder homogenen Identität.
So ist die Leiterfahrung dieser Objekte, unabhängig von ihrer Einfachheit oder Komplexität, immer die Leiberfahrung. In diesem Sinn sind sie Seismografen, Maßstabnehmer für jene psycho-physischen Befangenheiten, als die sich ein Leben, das mittlerweile über 70 Jahre lang gelebt wurde, ergeben hat. Auf der Suche nach der vergangenen, der verlorenen Zeit stehen sie für eine durchaus unfreiwillige Erinnerung, eine „mémoire involontaire“, in die man verstrickt ist. Es ist das Privileg des Künstlers, sich dieser Erinnerung zu versichern und sie durch die Sichtbarkeit wenn nicht mit Freiwilligkeit, so jedenfalls mit Evidenz anzureichern.
Einen „Art mnemonique“, eine Erinnerungskunst nannte Charles Baudelaire die „Malerei des modernen Lebens“, der er 1861 einen seiner bedeutendsten Essays gewidmet hatte. Sein Begriff für die erinnerungsgesättigte Arbeit an und mit den Materialien der Welt, in der sich das Flüchtige mit dem Zeitlosen verbindet, ist „Modernität“. Auch das: Moderne, Modernismus, Modernität. Im Raster von Oscar Bronners Objekten sind sie verfangen.
Quellen:
Die Zitate von Robert Morris und Clement Greenberg sind die zu finden in: Charles Harrison & Paul Wood (Ed.), Art in Theory. An Anthology of Changing Ideas, Oxford, UK/Cambridge USA 1992; deutsch als Kunst/Theorie im 20. Jahrhundert, Ostfildern-Ruit 2003; Morris S. 816 bzw. 1105, GreenbergS. 559 bzw. 685.
Aleida Assmanns Sätze in: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 371.
Charles Baudelaires „Le peintre de la vie moderne“ in: Critique d'art, Paris 1976, S. 343 – 384, bes. S. 354 – 357; deutsch in: Der Künstler und das moderne Leben, Leipzig 1990, bes. S.300 und 304/5.